Vor Cuxhaven tummeln sich die Surfer. Bis zu 70 000 auf nur einem Quadratmeter! Trotzdem laufen die meisten Menschen an ihnen vorbei oder barfuß über sie hinweg. Denn die Surfer verstecken sich im Spülsaum am Meeresboden, wo sich nach der letzten Flut Seetang, Federn und Muschelschalen zu einer welligen Grenze verheddert haben. Auf der einen Seite: blassgelber Sand. Auf der anderen: schlammbrauner Wattboden. Dort stößt Frank Dicke die Forke in den Grund. Er geht in die Knie und streicht mit dem Finger durch das Sammelsurium vor seinen Gummistiefelspitzen. „Da“, sagt er und hält eine millimeterwinzige Wattschnecke in die Höhe. „Solche Krümel hier, das sind Turboschnecken“, erklärt Frank Dicke. „Sie heften sich an die Wasseroberfläche und surfen – manchmal mit sieben Kilometer pro Stunde!“ Damit gelten Wattschnecken als die schnellsten Schnecken der Welt. Und als Super-Surfer!
Frank Dicke kennt die Geheimnisse des Watts. Und er kennt dessen Bewohner. „Jedes Tier hat einen Trick, um hier zu überleben“, sagt der Guide vom Projekt „Blaues Klassenzimmer“ in Cuxhaven. Als er an diesem frischen Sommertag mit Frederik, Frieda, Luise, Fabian und Sebastian zur Watterkundung aufbricht, zerrt der Wind an den Jacken, lässt sie flattern und rascheln. „Das Watt ist der Meeresboden“, hat die neunjährige Frieda zu Beginn schon erklärt. Und ihr Bruder
Frederik, zwölf Jahre alt, weiß: „Ebbe und Flut wechseln sich alle sechs Stunden ab.“ Zweimal am Tag also zieht sich das Wasser zurück und gibt den Meeresboden frei: Sand, Schlick und Schlamm bis zum Horizont. Genau darin stecken die Bodenschätzchen der Nordsee.
Da gibt es Pantoffelschnecken, die aussehen wie Muscheln, aber keine sind. „Muscheln bestehen immer aus zwei Teilen, Schnecken aus einem“, erklärt Frank Dicke und presst zum Vergleich die Hälften einer Herzmuschel zusammen. Und da sind Pfeffermuscheln, die sich in den Wattboden bohren. Haben sie Hunger, schieben sie eine Art Staubsaugerrüssel an die Oberfläche, den Sipho. Damit schlürfen sie den Wattboden ab. „Das sieht man an diesen sternförmigen Mustern“, sagt Frank Dicke und zeigt auf Löcher im Schlick, von denen mehrere Furchen abstrahlen: die Fraßspuren. „Also, Pfeffermuscheln und ihre Sterne kannte ich bisher nicht“, wundert sich Frederik, der mit seiner Familie in Cuxhaven wohnt. Schon öfter war er mit Frieda und den Eltern im Watt. Einmal im Jahr wandern sie von ihrer Heimatstadt aus sogar bis zur Insel Neuwerk – Familientradition. Auch diese Tour führt bei Ebbe über den trockengefallenen Meeresgrund.
Klar, dass Frederik und Frieda auch schon die Hinterlassenschaften der Wattwürmer kennen, genauer: die der borstigen Pierwürmer, die in u-förmigen Röhren leben. Einmal in die Kurve gelegt, fressen die Würmer Sand. „Sie filtern alles raus, was sie mögen“, sagt Frank Dicke. Algen etwa und Überreste von Pflanzen und Tieren. Sind sie nach einer Dreiviertelstunde voll, kriechen sie rückwärts zum Röhreneingang und kringeln Häufchen auf die Oberfläche, die aussehen wie Spaghetti-Eis in Graubraun. „Das ist sauberster Sand“, sagt der Wattexperte. Und fordert die Kinder auf, nach Herzmuscheln zu suchen. Mit dem Blick tastet Frieda den Grund ab, mit den Zehen kratzt sie fünfspurige Rillen in den Sand. Und ruft: „Ich hab eine!“ Nach und nach legt die Gruppe 13 Stück zusammen. „Jetzt müssen wir ruhig sein“, sagt Frank Dicke. „Muscheln merken, wenn der Boden vibriert und die Sonne auf ihre Schale scheint.“ Es passiert – nichts. Dann aber geht ein Herz auf: Vorsichtig schiebt eine Muschel ihren zungengleichen Fuß hervor. Damit wird sie sich abwärts graben. Zurück in den Grund, den die Nordsee in wenigen Stunden wieder überspült.
Text: Barbara Lich
Fotos: Michael Koch
GEOlino Ferienheft 1/2025 Seiten 46-50
Vielen Dank für die Genehmigung zur Veröffentlichung an dieser Stelle!
18.10.2025
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Quelle: openweathermap.org